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Prof. Ruedi Arnold von der Universität Mozarteum hielt am 5. Juni 2002 anlässlich der Eröffnung der großen Schulvernissage 01Strich02 eine auf das Motto der Austellung Balance abgestimmte Rede, die wir hier veröffentlichen dürfen:
Das Musische Gymnasium hat die bildnerische Tätigkeit und den Unterricht in den Werkfächern in diesem Unterrichtsjahr unter das Thema ?Balance? gestellt. Eine solche Erarbeitung des Themas "Balance" ist ein – im eigentlichen Wortsinn – außergewöhnliches Projekt.
Gewöhnlich hat, wer nach dem Gleichgewicht sucht, dieses un-mittelbar zuvor verloren.
Wenn hier – ohne Not – über Balance nachgedacht wird, macht dies aus einem Hinterher ein Vorweg; die Reparatur wird dadurch zur Vorsorgemaßnahme.
Oder zum Abenteuer.
Oder zu beidem. Denn das Reden vom Gleichgewicht meint nie jenen Zustand, in dem sich die auf eine Masse einwirkenden Kräfte selbstverständlich gegenseitig aufheben; das Gleichgewicht, an das gedacht –, oder von dem gesprochen wird, ist (zumindest potentiell) stets gefährdet. Gleichgewicht üben heißt also: „sich (zumindest auch) mit dem Gefährlichen beschäftigen“. Und das kann ganz schön spannend sein. Auch wenn es nur auf dem Spielfeld einer bildnerischen Auseinandersetzung geschieht. Dem einschränkenden „Nur“ sollten wir aber ein „Gott sei Dank!“ nachschicken – ermöglicht doch der Spielplatz ein effizienteres Lernen als jene Methode, die darauf baut, dass Schaden klug mache.
Wir brauchen solche „Spielfelder“, wie sie die Beschäftigung mit der Kunst und die Einübung in gestalterische-, bildnerische-, literarische- und musikalische Tätigkeit bereit stellen.
Brauchen? Das sagt sich so leicht. Brauchen weshalb? Wofür? Gleichgewicht, ja das brauchen wir. Aber hat denn Balance (kein Begriff wie Aquarell oder Stilleben) etwas mit gestalterischer Tätigkeit und bildender Kunst zu tun? Und brauchen wir überhaupt Kunst?
Wir brauchen die Kunst, um Vorstellungen von Welt zu gewinnen. Und auf solche Vorstellungen sind wir angewiesen, weil wir Menschen nun mal keine Nestflüchter sind, die – frisch aus dem Ei gepellt –, ausschließlich instinktgeleitet und dem Prinzip von Versuch und Irrtum folgend, die Welt erkunden. Was wir als Kinder aus Erzählungen, Geschichten und Märchen, später zunehmend aus den Medien und durch die Teilhabe am kulturellen Leben lernen, fügt sich in unseren Köpfen zu einer Art „kultureller Partitur“, in der wir immer mehr Stimmen zunehmend präziser ausdifferenzieren. Die Kenntnis dieser Partitur macht uns fähig, auch in erstmals erlebten Situationen zu erahnen, was uns erwartet, und sie stellt uns Modelle für unser Verhalten zur Verfügung und ein Wissen darum, was welches Verhalten bewirkt. Wir könnten solche Modelle natürlich – statt diese aus der Kunst zu beziehen –, aus Groschenromanen und Mickeymouse-Heften übernehmen. Damit wären wir aber vergleichsweise schlecht beraten.
Ohne Vorstellungen im Bezug auf Realität, würden wir von allem, was uns neu begegnet, völlig aus der Bahn geworfen (besser: wir würden nie dazu kommen, so etwas wie Folgerichtigkeit in unser Leben zu bringen). Ohne Kunst im engern Sinn könnten wir vielleicht überleben, aber für ein Leben, das diesen Namen verdient, brauchen wir die Kunst. Ein Leben bezeichnen wir dann als „reich“, „schön“ und „gut“, wenn es in dem Ausmaß spannend ist, welches keinen unangenehmen Stress erzeugt.
Womit ich wieder aufs Balancieren zurück komme: Es ist entschieden bequemer, „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ auf einem Bild im Museum zu betrachten, oder gemütlich lesend auf dem Sofa kennen zu lernen, als diesen am Nordpol ausgesetzt zu sein.
Es muss nicht immer gleich um existentielle Bedrohung gehen; aber ein Leben, welches nur von Geschichten und von den Bildern anderer zehrt, ein Leben ganz und gar aus zweiter Hand, wäre zwar bequem, aber langweilig.
Was man jedoch überhaupt nicht möchte: auch als Leser zwischen zwei Buchdeckeln mit jener Ereignislosigkeit, die den Alltag stressfrei macht, gelangweilt werden.
Trotzdem kann sich kein frisch verliebter Mensch ernsthaft wünschen, dass seine neue Beziehung so viele Verstrickungen und Komplikationen mit sich bringe, dass sich der Bericht darüber wie ein Roman lesen lässt.
Bilder und Bücher dürfen also von Dingen handeln, die wir in dieser Intensität selber lieber nicht erfahren wollen.
Gelegentlich schauen wir uns aber auch gern ein Bild an, auf welchem fast nichts zu sehen ist, oder wir legen einer Musik auf, die ganz ruhig dahin fließt. Meist mögen wir diese ruhigen Werke dann besonders, wenn wir nervös sind und fühlen, dass sie uns entspannen.
Was ist, ist, – das brauchen wir nicht von Kunst künstlich dupliziert. Es muss also keine Flucht aus dem Alltag sein, wenn wir von der Kunst verlangen, dass sie Realität hinterfrage, übersteige, relativiere usw. Der Philosoph Herbert Marcuse ortet dementsprechend die Kunst in einem Bereich ?zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte?. Das ist ein großer Bereich, der aber kein weites Feld absteckt, sondern einen schmalen, sich vielem entlang schlängelnden Grat bildet. Auf der einen Seite fällt dieser Grat ab zum ?Brauch ich nicht, weil ich es eh schon hab!?, auf der andern zum ?Das gibt’s doch nicht!? überzogener Fantastik.
Auch wenn beim Zeichnen, Malen und Modellieren und Weben Sticken und Werken kein Seiltänzer als Sujet auftaucht, mit der Balance (auf dem beschriebenen Grat) haben diese Tätigkeiten immer zu tun. Man tastet sich von dem, was ist, zu dem, was sein könnte.
P.S. Am Beginn meiner Überlegungen habe ich die Suche nach dem Gleichgewicht als außergewöhnliches Projekt hingestellt. Und nun behaupte ich, jedes gestalterische Tun wäre ein Balancieren. Wir Menschen sind so gebaut, dass wir uns nur im labilen Gleichgewicht aufrecht halten können, d. h. wir müssen beim Stehen dauernd das Gewicht vom einen – auf das andere Bein verlagern. Wir tun das, ohne einen Gedanken daran zu verwenden. Sobald wir uns aber darauf achten, beginnt scheinbar die Welt um uns herum zu schwanken. Da könnte einem leicht schwindlig werden.

14. Mai 02, Ruedi Arnold